Unsere Dörfer und Städte sind multikulturell und individualisiert. Und das Leben der Menschen ist vielfältig, bunt und von den unterschiedlichsten Vorstellungen und Idealen geprägt. Auch die Gesellschaft in Osttirol ist kein geschlossenes, katholisches Milieu, sondern zergliedert sich in die verschiedensten Gruppen.
Die SINUS-MILIEU-STUDIE (Graphik SINUS MILIEUS Dekanat Sillian, Beiblatt 2 Seiten) half uns, diese Realität bewusst wahr zu nehmen, und sie öffnete uns die Augen dafür, dass wir als Kirche nur mehr zu wenigen dieser Gruppen Verbindung haben, v.a. zur bürgerlichen Mitte, den Konservativen und Etablierten, teilweise auch den Traditionellen. Würden wir als Kirche einfach nur so weitermachen wie bisher, würden wir allein aufgrund der fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung immer mehr zur Minderheiten-Kirche, und wir würden große Bevölkerungsgruppen nicht mehr ansprechen und erreichen. Das wäre aber Verrat an der leidenschaftlichen Hirtensorge Gottes, die uns bewegt.
Welche Veränderungen und auch Nöte nehmen wir dabei sowohl bei den Menschen wie auch bei uns in der Kirche wahr?
Hier einige Streiflichter aus unseren Wahrnehmungen und Überlegungen:
Werden Menschen mit schwerer Krankheit und Tod konfrontiert und aus ihrem gewohnten, funktionierenden und absicherten Leben herausgerissen, erfolgt eine enorme Verunsicherung. Nicht wenige verzweifeln dabei an der Frage, wie Gott nur so etwas zulassen konnte. Auf dem Hintergrund eines abnehmenden Glaubenslebens und einer schwindenden, persönlichen Beziehung zu Christus wäre Kirche umso mehr gefragt, durch persönliche (Lebens-/Krisen- und auch Trauer-)Begleitung in solchen Situationen einfach gut für Menschen da zu sein. Doch die sinkende Zahl von Priestern, ihre Überalterung und die wachsende Größe von Seelsorgeräumen, für die Pfarrer verantwortlich sind, läuft dem scheinbar entgegen, außer man öffnet das klassische Bild einer auf den Priester fokussierten Seelsorge hin auf die ganze Pfarrgemeinde.
In Wahrheit ist die Pfarrgemeinde die Seelsorgerin der Menschen im Ort.
All ihre Mitglieder haben durch die Taufe Anteil am gemeinsamen Priestertum, sie sind von Gott berufene SeelsorgerInnen für die Menschen um sie herum. Die geweihten Priester helfen den Getauften in ihren Pfarren, dass diese ihre seelsorgliche Berufung leben können und auch tatsächlich leben. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage der Leitung in den einzelnen Pfarren neu, denn das bisherige Modell ging mehr oder weniger von einem Priester in jeder Pfarre aus. Nun aber hat er in einem Seelsorgeraum eine Vielzahl unterschiedlicher Pfarren zu betreuen.
Neben der Abnahme eines geschlossenen, katholischen Glaubensmilieus gibt es aber auch eine deutlich spürbare Zunahme von Hunger nach Mehr; nach einem Mehr an Glaubensinhalt, an Substanz, an Zugang zur Bibel und nach erfahrbarer und tragender Gemeinschaft, in der man offen über das eigene Leben wie über die Fragen des Glaubens reden kann. Innerhalb des klassischen Pfarrlebens bleibt dieser Hunger oft ungestillt. Hier müssen neue Schwerpunkte gesetzt werden.
Viele Menschen erleben, wie der Druck in ihrer Arbeit, aber auch im privaten Leben zunimmt. Man muss immer eine Top-Leistung bringen und sich gut in Szene setzen. Die digitalen Medien tragen ihren Teil noch dazu bei. Dementsprechend nimmt die Bereitschaft und mitunter wohl auch die Möglichkeit ab, sich verbindlich ehrenamtlich zu engagieren. Zugleich steigt der Durst nach Orten der Stille und des Auftankens.
Das Wochenende, und besonders der Sonntag werden zum Ort, an dem sich sehr viele aufgestaute Erwartungen erfüllen sollen; Erwartungen, die unter der Woche so nicht in ausreichender Weise gelebt werden konnten: harmonisches Familienleben, körperliche und seelische Erholung, gemütliches Ausschlafen, möglichst viele und schöne Sport- und Natur-Erlebnisse, genussvolles gemeinsames Essen… Das erzeugt bereits den nächsten Druck, und verdrängt in vielen Familien das klassische Sonntagsangebot der Kirchen mit dem Kirchgang aus ihrer Wochenendplanung.
Der Wert vom Menschen
Im Fokus der Aufmerksamkeit einer Leistungsgesellschaft stehen die Erfolgreichen und Starken. Der Wert von Menschen und von menschlichem Leben wird vielfach nach seiner Leistungsfähigkeit bemessen. Die zunehmende Anzahl der „drop-outs“, also derer, die entweder nicht mehr mitkönnen und wollen, oder die einfach an den Rand gedrängt oder auch – nach profitabler Benutzung – weggeworfen werden, ist ein Alarmzeichen. Es gibt eine wachsende materielle Not, vielfach wird sie schamhaft nach Kräften versteckt. Ebenso zeigt die wachsende Individualisierung ihre Kehrseite in der Vereinsamung von Menschen.
Auch die enorme Zunahme der Pflegedauer von alten und kranken Menschen im häuslichen Umfeld ist eine große Herausforderung. In diesem Kontext gibt es viel Not und Leid, bei den Kranken genauso wie bei den pflegenden Angehörigen.
Lange Zeit hatten Menschen, deren Ehe leider Schiffbruch erlitt, das Gefühl, keinen Platz in der Kirche und eigentlich sogar keinen Platz vor Gott zu haben. Statt in einer besonders leidvollen Lebensphase erst recht Hilfe und Unterstützung zu erhalten, erlebten sie oft das Gegenteil. Das hat bei vielen Betroffenen tiefe Wunden hinterlassen, und der Glaubwürdigkeit von Kirche schwer geschadet. Nicht wenige haben sich auch deshalb innerlich von der Kirche entfernt. Neben einer guten Ehevorbereitung und Begleitung gilt es, auch der Initiative „Neu beginnen“ Raum und Gehör zu verschaffen.
Eine wachsende Gruppe in der Bevölkerung lebt wie fordernde Konsumenten. Sie meinen, einen Anspruch auf alle gewünschten Dienstleistungen zu haben und erwarten, dass öffentliche Stellen und Institutionen sie unmittelbar und jederzeit ihren Wünschen entsprechend zur Verfügung stellen. Mit dieser Einstellung begegnen sie auch Kirche, nicht zuletzt aufgrund des geleisteten Kirchenbeitrags. Dabei übersehen sie, dass Kirche neben Gottes Gnade nur davon lebt, was wir gemeinsam für andere einbringen.